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Wolfgang Birk

Gedächtnis aus Blei

Zu den Arbeiten 1997/2000

BLEI: EIN ELEMENT MIT VIELEN GESICHTERN

Das Arbeitsmaterial der Künstlerin Magdalena Grandmontagne verdient in der Breite seiner Möglichkeiten und Geschichten eine besondere Vorbetrachtung, die zum Verständnis vieler ihrer künstlerischen Überlegungen Hilfestellung bietet. Blei ist vielfältig wie kaum ein anderes chemisches Element. Blei diente den Menschen im Altertum zum Süßen von Wein, als Bleiweiß war es Färbemittel und Schminke, man baute damit Dachabdeckungen und Wasserleitungen, später auch kunstvolle Figuren und Gewehrkugeln.

 

Eine der hervorstechendsten Eigenschaften des Bleis ist seine Veränderlichkeit. Als Zerfallsprodukt radioaktiver Elemente wie Uran oder Thuranium existiert Blei in mehreren Isotopen. Es reagiert an der Luft mit Sauerstoff zu weißem Bleioxid, das vor weiterer Korrosion schützt. Schwefelverbindungen der Luft schwärzen das Blei. Auch auf Inhaltsstoffe des Regenwassers reagiert Blei durch Farbveränderungen. Manche Bleiverbindungen ändern ihre Farbigkeit zudem bei Temperaturerhöhungen. Geringe Zugaben von Blei haben für die Glasschmelze als Flussmittel wichtige Bedeutung. Bleilegierungen (Beimischungen anderer Metalle) können dessen physikalische Eigenschaften bedeutend verändern, z.B.zum Gießen von Drucklettern oder als Hartblei.

 

Eine weitere zentrale Qualität des Bleis liegt in seiner Schutz- und Isolierfunktion. Blei ist nur an seiner Oberfläche gegen Witterungseinflüsse empfindlich und war deshalb ein beliebtes Korrosionsschutzmetall bei Dachabdeckungen, Wasserleitungen, flexibel ummantelten Erdkabeln. Orangefarbenes Bleimennige war der beliebteste industrielle Korrosionsschutzanstrich. Heute werden wegen der Giftigkeit von Bleisalzen allerdings zunehmend Ersatzstoffe verwendet. Blei als Isoliermittel fand dort Verwendung, wo es um Schall- und Wärmeleitschutz ging. Schallisolierte Räume wurden mit Blei verkleidet. Blei speichert Wärme inerheblichem Umfang, wie nicht erst seit Casanovas Erzählungen über die Haftbedingungen in den Bleikammern unter dem Dach des venezianischen Dogenpalastes bekannt ist. Heute wird die Schutzfunktion des Bleis eingesetzt in der Strahlenschutztechnik zur Vermeidung gefährlicher Gammastrahlen, von der einfachen Röntgenschürze bis zu Ummantelungen in Kernreaktoren.

 

Blei hat noch eine dritte Eigenschaft: Es speichert Bearbeitungsspuren. Falten und Kratzer sind in Bleiblechen unauslöschlich eingegraben. Sie können zwar durch neue Spuren überlagert werden, sind jedoch nie ganz auslöschbar. Gerade in dieser Gedächtniseigenschaft des Bleis liegt eine Qualität, die zeitgenössische Künstler wie Anselm Kiefer zu monumentalen Werkzyklen inspiriert hat und die auch für Magdalena Grandmontagnes Untersuchungen einen wichtigen Impuls darstellt.

 

Trypt

 

 

 

 

SPUREN SICHERN
Blei findet als Matrize für künstlerische Umsetzungen im Werk Magdalena Grandmontagnes erst dann Verwendung, wenn es eine Phase der Benutzung, Verwitterung, der Reaktion mit dem Umfeld, des Sich-Veränderns, hinter sich hat. Damit trifft die Künstlerin einen zentralen ästhetischen Gesichtspunkt der Nachkriegskunst: Die Ästhetik des Zerfalls. «Gegenstände zeigen ihr Wesen am besten, wenn sie benutzt und vernachlässigt sind», erläutert Roland Bartes die geistige Suche der Künstler nach der Kern der Dinge. Magdalena Grandmontagne führt die Überlegungen der Ästhetik des Sich Auflösenden auch in den neuen Serien von Leinwandreibungen weiter, bei denen sich der Malgrund Leinwandaufgrund intensiver Reibung mit Graphitstiften aufzuwölben beginnt. So kommen wir auch zu einem ergänzenden Blickwinkel: der körperlichen Arbeit, die zur Herstellung der Mal- und Bearbeitungsserien Magdalena Grandmontagnes notwendig ist. Ein Objekt wird erst dann verwendet, wenn es für die Künstlerin selbst oder andere Personen mit körperlichen Mühen verbunden war, sein aktuelles Aussehen zu erstellen: Schwere Bleibleche werden auf ein Kopfsteinpflaster aufgeklopft, eine sehr mühselige Arbeit. Es existieren auf diese Art und Weise auch Abdrücke von Grenzsteinen oder Treppenstufen. Schon die früheren Ritz- und Kerbarbeiten, die «Schilde» Magdalena Grandmontagnes, zeigen deutlich ihr tiefgehendes Interesse an einer Verknüpfung handwerklicher Mühe und künstlerischer Gestaltung. Das Sichern der Spuren von Zeit und Geschehen im Blei besteht einmal in der Aufnahme bereits vorhandener Strukturen des Materials, zum anderen aber auch im Zusammensetzen von gesammelten Strukturen auf Bleiblechen. Platten werden auseinandergeschnitten, manchmal neu bearbeitet und nicht zuletzt auch in zeitlich aufeinander folgenden künstlerischen Folgen verwendet. «Ich nehme in eine Ausstellung gerne ein umgearbeitetes Erinnerungsstück aus der vorhergehenden Ausstellung mit», erläutert Magdalena Grandmontagne. Dadurch wird das Bleiblech zum dokumentierten Stück der eigenen künstlerischen Biographie und weist auf einen neuen Gesichtspunkt: Das Arbeiten mit dem Thema Zeit. Zunächst tritt die Zeit – wie eben dargestellt – als autobiographische Serie der weiterverfolgten eigenen Ausstellungen auf. Dann entstehen die neuen Serien der fixierten, verdichteten Bewegung: Die Tanzbilder.

 

Die erste Serie von Bewegungsbildern entwickelt sich 1999 aus einem Projekt mit Olivia Rosenkranz. Die aus New York kommende Tänzerin betanzte die von Magdalena Grandmontagne mit Blei ausgelegte Bühne bei einer Aufführung in der Salle Poirel in Nancy. Spannend für die Künstlerin war dabei die Wahrnehmung der Veränderung des Bleibleches, seine Verfärbungen, Aufwölbungen und Kraftzentren, die durch Schleifspuren von während des Tanzes aufgelegtem Sand zusätzliche Akzentuierung erfuhren. Es ergeben sich aus dem ersten Tanzprojekt Gedanken zu Installationen, die durch assoziierende Klänge und Rhythmen Themenbereiche wie Industrie, Arbeit, technischen Rhythmus aufgreifen. Zur Eröffnung der Ausstellung im Frühjahr 2000 in Dillingen betanzte der Neunkircher Choreograph Charles Bankston vier Bleiplatten, die durch verschieden weiche und strukturierte Unterlagen die Fußbewegungen des Tänzers unterschiedlich aufnehmen. Das Festhalten von Bewegung dokumentiert in erster Linie nicht die Einzelbewegung, sondern vielmehr die ständige Wiederkehr, den Rhythmus, die Kraft- und Bewegungszentren. Sie stellen eine weitere Facette der seriellen Untersuchungen Magdalena Grandmontagnes dar und werden in veränderter Form aufgegriffen in Leinwandreibungen, bei denen sich das Material durch die ständige Wiederkehr von Bewegung aufzulösen und aufzuwölben beginnt.

 

AUS BLEI WIRD KUNST
In der Interpretation des Erfahrenen besteht die eigentliche Arbeit der Künstlerin. Durch Anwendung verschiedener Maltechniken, Druckverfahren und graphischer Umgestaltung stellt sie partielle Auszüge der Bleimatrizen her, verbindet Formen, Strukturen und Wege durch Lasuren oder Schichtungen, stellt Empfindungen und Eindrücke nebeneinander, löst immer wieder neue Aspekte und Teilansichten aus ihren Vorlagen heraus. Arbeiten auf Leinwand erprobt sie dabei zunächst in ihrer Wirkung auf großen Papierbahnen. Es geht dabei auch um das Abklären der konkreten Arbeitsschritte und ihrer Wirkungen. Die formale Strenge des Vorgehens und die scheinbare Abwesenheit von persönlicher Geste und Duktus betonen das Material in seinen unendlichen Variationsmöglichkeiten. Jeder Impuls, jedes Arbeitsergebnis, das Magdalena Grandmontagne aus ihren Bleiplatten herausarbeitet, geht zurück auf das Original und seine gestalterischen Möglichkeiten. Beeindruckend ist die unerschöpfliche Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten, die aus einer scheinbar profanen Vorlage herauszuarbeiten sind. Kaum wahrnehmbare Teilaspekte der Bleimatrizen, kleine Kerbungen und Aufwölbungen erfahren durch das Freilegungsmedium Druckgraphik eine erhebliche Verstärkung oder werden nun erst für das Auge sichtbar. Andere Dinge hingegen können je nach angewendetem Übertragungsverfahren verschwinden. Insofern stellen die entstehenden Serien einmal einen zusätzlichen Blickwinkel des Themas Drucken her. Drucken wird zum Freilegen. Drucken wird verstanden als basishaftes Arbeiten mit Erhebungen und Vertiefungen. Die Farbe der Bilder nimmt Bezug auf die Farbigkeit des Bleis. Magdalena Grandmontagne verwendet Farben, die sie selbst in den Reaktionen des Bleis auf seine Umgebung wahrgenommen und kennengelernt hat, etwa die starken Farbänderungen, die das Bleiblech auf der Treppe ihres Hauses in der Provence über mehrere Monate hindurch erfahren hat oder die hellblauen Veränderungen der Bleiplatten auf dem Kopfsteinpflaster um den Brunnen in der Dillinger Fußgängerzone. Bleiverbindungen können sehr intensive Farberscheinungen aufweisen und so wundert es nicht, dass sich Magdalena Grandmontagnes malerische Palette um sehr farbreiche Schichtungen, Lasuren und Grundwirkungen ausweitet. Spannend sind auch die Leinwandarbeiten, die direkte farbliche Bezüge zu ihren mitpräsentierten Vorlagen einbringen oder die sie fest mit den originalen Bleiplatten kombiniert. Immer ist es so, dass der Ausgangspunkt für die seriellen Arbeiten der Künstlerin im Tatsächlichen liegt. Die Bleiplatten dokumentieren tatsächlich stattgefundene Ereignisse und Bewegungen, die Farben nehmen Bezug auf tatsächlich wahrgenommene Farbvariationen des Ursprungsmaterials. Und dieser Bezug auf die Realität leitet zur künstlerischen Absicht, die Magdalena Grandmontagne als «l‘essence des choses», das Wesen der Dinge bezeichnet.

 


Himmelsscheibe 10

 

 

DIE KÜNSTLERISCHE AUSSAGE
In unserem Leben mischen sich verschiedene Erlebensweisen von Realität. Sie alle haben Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung und Interpretation von Ereignissen. Da ist erstmal die Realität der Erinnerung. Sie ist bei Magdalena Grandmontagnes Arbeiten in den Bleiplatten festgehalten und wird von der Künstlerin als Spur visualisiert. Dann die Realität der aktuellen Wahrnehmung. Was wir sehen und wohin unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird, hängt nicht alleine an der Vorlage, der Bleiplatte, sondern ganz wesentlich an der Technik, die zu ihrer Übertragung auf die Leinwand verwandt wird. Zuletzt gibt es auch die Ebene der Phantasie, die sich in den Bildern fixiert. Die Künstlerin nimmt Spuren wahr und kombiniert sie neu, setzt sie farblich anders ins Licht und erreicht dadurch immer neue ästhetische Wirkungen. Der Psychoanalytiker Ronald David Laing hat sich vor 40 Jahren in seinem Buch «Das Selbst und die Anderen» mit den Wirkungen der drei Realitätsmodi Erfahrung, Perzeption und Imagination beschäftigt, die alle in ihrer Kombination unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit beeinflussen. Wirklich ist eben nicht nur das, was wirn vordergründig sehen, sondern auch unsere Vergangenheit und das, was aktuelle Ereignisse in Kombination mit Erinnerung in uns als Phantasievorstellungen hervorrufen können.

Vor diesen Hintergrund erweitert Magdalena Grandmontagnes künstlerische Arbeit unsere Vorstellungen von Realität. Eine Grundphilosophie des seriellen Arbeitens findet sich bereits in der Naturphilosophie von Aristoteles, der das Wesen der Dinge über die Vielfalt seiner einzelnen Erscheinungsformen zu ergründen versucht. Es gibt bei ihm die Variation, das Individuelle, das Aristoteles als «Bewegung» bezeichnet und das Unbewegte, das «Göttliche», das Grundprinzip, nach dem sich die Variationen bilden. Aristoteles unterscheidet dabei zwischen Vergänglichem, Vermitteltem und Unvergänglichem. Übertragen wir seine Überlegungen auf den Grundgedanken des seriellen Arbeitens mit Blei, so erleben wir das Blei zunächst einmal als einen Stoff, der etwas Vergängliches als Spur in sich aufnimmt: Bewegung, Material, Verwitterung, Temperatur. Dabei ist das Blei selbst allerdings nicht das Vergängliche, sondern ein Vermittelndes. Es nimmt das Vergängliche auf, bewahrt es, ist aber selbst unvergänglich. Als ein solches Gedächtnis kann das Blei auf Grundwahrheiten und Grunderfahrungen hinweisen, die über die aktuellen Ereignisse reichen, die das Wesen unseres ganzen Lebens beleuchten.

Einen zusätzlichen Aspekt der Reflexion über Grundwahrheiten zeigt Magdalena Grandmontagnes Einbeziehung anderer. Mit Ausnahme der Tanzplatten gehen alle Basismaterialien auf menschliches Handwerk als Folie zurück, z.B. Fixierung behauener Steine oder Treppen, Abformungen wie von der Wand der Bleikammern in Venedig, ausgelegte Straßenpflaster oder Teppiche. Die Bearbeitung erfolgt einerseits durch physische oder chemische Verwitterungs- und Veränderungsprozesse, andererseits durch die Künstlerin selbst, die die Abformungen vorbereitet. Besucher sind häufig als Akteure einbezogen. Sie stellen in manchen Serien durch das aktive Begehen der Platten die Matrize in ihrer tatsächlichen Form her. Gleichzeitig sind die Besucher oft auch als Zeugen eines Ereignisses eingebunden. Sie nehmen die Spuren anderer wahr und können zum Beispiel bei öffentlichen Performances die Entstehung der Matrize für die nächsten Serien Magdalena Grandmontagnes beobachten. Magdalena Grandmontagnes Arbeiten zeigen somit in ihrem vielschichtigen Untersuchen von Grundwahrheiten, wie unendlich vielschichtig sich unsere Welt in all ihren Details darbietet. Das Lebensgleichnis Serie findet sich auch im Wiedergeben der eigenen künstlerischen Biographie. Von jeder Ausstellung wandert ein Teil in veränderter Form in die nächste Ausstellung hinein und bildet so eine nie endende künstlerische Verbindungskette. Die besondere Spannung ihrer Arbeit liegt sowohl in ihrem sozialen Charakter des Umgangs und der Einbeziehung von Besuchern, als auch in ihrer sorgfältigen Beobachtung des Details, der scheinbar nebensächlichen kleinen Alltagsspur. Magdalena Grandmontagne hält fest, reduziert, legt Verborgenes frei und erweitert Vorgefundenes. Mit einer auf Vereinfachung und Grundprinzipien ausgelegten Arbeitsstrategie gelingt ihr in der Kunst eine Ausweitung unserer Lebenserfahrung.