Ernest W. Uthemann
Ordnung ist die halbe Unordnung
Im Jahr 1978 entdeckte die britische Anthropologin Mary Leakey im nördlichen Tansania die sogenannte Laetoli-Piste, 3,6 Millionen Jahre alte Fußspuren, die in vulkanischer Asche hinterlassen worden waren und dann versteinerten. Man findet häufiger urzeitliche Spuren, aber diese waren besondere: Sie stammten von Hominiden, wahrscheinlich vom Australopithecus afarensis. Bekanntestes Exemplar dieser Art ist die sogenannte „Lucy“, 1974 von Donald Johanson im Afar-Dreieck gefunden und nach dem Beatles-Song „Lucy in the Sky with Diamonds“ benannt. Im Unterschied zu anderen urzeitlichen Fährten zeugten die Trittsiegel aus Laetoli noch von mehr als der schieren Existenz des Lebewesens, nämlich von seinen kulturellen Anfängen, von seinem sozialen Zusammenhalt. Denn man konnte erkennen, dass eine dreiköpfige Familie dort gelaufen war. Ein Kind war offenbar – am Schluss der Gruppe gehend – in die Spuren seiner Mutter getreten. Und: Die Laetoli-Piste lieferte den Beweis, dass unsere Vorfahren den aufrechten Gang erlernt hatten. Die ersten Zeugnisse, die Menschen hinterließen, waren also: Drucke.
Auch Magdalena Grandmontagne hat in der Vergangenheit menschliche Spuren „konserviert“, Bleibleche ausgelegt, über die Menschen liefen oder auf denen eine Tänzerin steppte. Die so entstandenen Spuren nutzte die Künstlerin als Druckstock. In ähnlicher Weise hat sie verschiedenste Strukturen, von Bäumen, von Steinen, von Mauern, mit Bleiblechen abgenommen und gedruckt.
Diese Arbeiten waren in vergangenen Ausstellungen schon zu sehen, ebenso wie ihre Schabkunst-Blätter, Graphiken in einer alten Drucktechnik, nämlich dem sogenannten Mezzo- tinto-Verfahren. Dies ist eine relativ junge Technik des Tiefdrucks; das erste Schabkunst-Blatt datiert aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, während der Kupferstich schon zu Be- ginn des 15. Jahrhunderts entstand. Gleichzeitig ist diese Technik unter den Tiefdruckverfahren auch die aufwändigste: Der Künstler, die Künstlerin raut zunächst mit einem Wiegemesser beziehungsweise mit der Roulette oder der Moulette die Oberfläche der Metallplatte so lange auf, bis sich beim Druck ein komplett mattschwarzes Blatt ergibt. Dann wird mit dem Polierstahl die Platte partienweise wieder geglättet. Je glatter die Oberfläche, desto weniger Farbe haftet dort, desto heller wird die entsprechende Partie im Druck.
Magdalena Grandmontagnes Liebe gilt der Arbeit mit dem Metall, und sie hat selbst einmal dazu gesagt: „Was mich an der Radierung auf Metallplatten fasziniert hat, das war zunächst dieses Kratzen, das ich höre, das Ätzen mit der Säure, die ich rieche, die Rauheit der Oberfläche, die ich spüre.“ Der Reiz ihrer Arbeit besteht demnach für die Künstlerin nicht zuletzt in der Überwindung von Widerständen. Wollte sie sich große Mühe beim Druck von Graphiken ersparen, so könnte sie zur Radiernadel oder zur lithographischen Kreide greifen. Doch selbst im kleineren Format wählt sie eine Technik wie sie mühseliger nicht sein kann.
Schon seit langem und nun speziell im Vorfeld dieser Ausstellung beschäftigt sich Magdalena Grandmontagne mit Blei, nutzt seine (relative) Weichheit und Geschmeidigkeit, um damit Abdrucke von Rinde, Natur- und Kunststein und anderen reliefhaft strukturierten Oberflächen (oder – wie oben erwähnt – von Füßen) zu nehmen. Zum Teil setzt die Künstlerin die so gewonnenen Strukturen wiederum in Druckgraphik um, zum Teil werden die Bleche selbst zu Objekten, zum Teil auch überlässt Magdalena Grandmontagne das Blei natürlich/zufälligen oder gezielt herbeigeführten chemischen Prozessen. So ähnelt ihr Atelier in Teilen einer Hexen- oder zumindest Alchimistenküche: Neben dem nicht eben gesundheitszuträglichen Blei findet man dort auch ätzende Flüssigkeiten und Granulate, welche die Korrosion beschleunigen und damit – natürlich – die (beinahe) alchimistische Verwandlung von Blei in Kunst. In gewisser Weise hat die Künstlerin den römischen Gott Saturn zum „Laren“, zum Schutzgott ihres Ateliers erkoren, den Gott also, dem das Blei zugeordnet ist und der für Melancholie, Krankheit und harte Arbeit steht, doch auch für Maß und Ordnung. Denn das sind drei der wichtigsten Konstituenten in Magdalena Grandmontagnes künstlerischem Werk: das Blei, die schwere körperliche Arbeit (die sichtbar in die entstehenden Kunstwerke eingeht), die tendenzielle kompositorische Um- wandlung von Unordnung in Ordnung.
Seit dem Urknall (Ja: Man kann auch noch früher als bei Adam und Eva anfangen!) nimmt die Unordnung des Kosmos stetig zu und damit natürlich auch die unserer Welt. Das All strebt auseinander, und ich denke, die meisten haben inzwischen begriffen, dass alle Versuche, auf unserer guten alten Erde klare, geordnete Strukturen nachzuweisen oder gar zu schaffen, immer nur zu einem Resultat führen, zu einer exponentiell zunehmenden Unübersichtlichkeit nämlich, und dazu trägt die allgemeine Vernetzung nicht unwesentlich bei. Nach den Lehren der Thermodynamik sind Prozesse, die mit einer Entropiezunahme verbunden sind, irreversibel. Die kulturellen Bemühungen des Menschen, vor allem auch die Kunst, wurden lange als die einzige Möglichkeit angesehen, das Chaos zu ordnen (vgl. Rudolf Arnheim, Entropie und Kunst. Ein Versuch über Unordnung und Ordnung, Köln 1979). Doch inzwischen herrscht eher die Ansicht, man könne es lediglich abzubilden versuchen, es also in einen „Rahmen“ einfassen, der ihm sichtbare Gestalt gibt. Das Chaos wird kenntlich gemacht, aber nicht in Ordnung aufgelöst. Genau dies, denke ich, leistet Magdalena Grandmontagne.
Schon die Anordnung mit dem Hammer geschlagener Punzen, die Metallplatten zu Druckstöcken werden lassen, markiert den Grat zwischen Ordnung (also willentlicher Verteilung) und Unordnung (also dem – wie Arnold Gehlen es nennt – unwillkürlich „Hinzunehmenden“). Magdaledalena Grandmontagne versucht nun nicht, „auf diesem Seil zu tanzen“, sie bewegt sich vielmehr auf beiden Seiten einer Trennungslinie zwischen Chaos und Struktur, zwischen Zufall und Komposition. Die Folien, die in einem Schießstand die Auffangpolster für die Geschosse abdeckten, waren ein Zufallsfund. Sie faszinierten die Künstlerin nicht nur wegen ihres allgemeinen Interesses an eigentümlichen Strukturen, sondern speziell wohl wegen ihrer optischen Verwandtschaft mit den Mustern vorausgegangener Gemälde und Drucke. Die Verteilung der Einschusslöcher steuerte das Element des Zufalls bei, auch wenn die Streuung natürlich letztlich von der Distanz zum Zentrum der Schießscheibe abhängt und damit schon eine gewisse „ordnende“ Kausalität spiegelt. Magdalena Grandmontagne belässt es aber nicht beim objet trouvé. Die durch Schmauchspuren deutlich konturierten Einschusslöcher gemahnen schon per se an einen Sternenhimmel. Mittels Durchreibens der – durchaus reliefierten – Struktur auf einem untergelegten anderen Stück der Folie ergänzt die Künstlerin die vorhandene Verteilung, schafft weitere dichtere, aber auch offenere Partien. Sie „korrigiert“ dabei aber die vorgefundene Anordnung nicht vor allem in der Fläche; vielmehr erzeugt sie durch unterschiedlichen Druck abgestufte Licht- und Dunkelzonen, die einen tiefen Raum illusionieren. Die ursprüngliche Anmutung eines gestirnten Himmels wird dadurch noch einmal verstärkt. Gleichzeitig aber – und damit steht Magdalena Grandmontagne in einer charakteristischen Tradition der Kunst der Moderne – wirkt sie der Raum-Allusion auch entgegen, einerseits, indem sie Spuren einer Radiernadel hinzufügt, andererseits durch die Art der Präsentation: Die Folien sind zwischen Plexiglasscheiben gespannt, so dass der Betrachter der Flächigkeit immer gewahr bleibt.
Der Durchreibetechnik bei den Folien entspricht das der Frottage und Grattage entlehnte Verfahren, mit dem Magdalena Grandmontagne in Bleiplatten gefundene Strukturen prägt. Man könnte diese Technik „Pressage“ oder besser noch „Martellage“ nennen, da sich die Oberflächen von Pflasterungen, Kanaldeckeln oder auch reliefierten Inschriften durch Bearbeitung mit dem Hammer durchdrücken. Die Dinge der Welt bilden sich – mit etwas Hilfe - sozusagen selbst ab. Eigentlich sind diese zu einem übergeordneten Quadrat arrangierten und auf Holz montierten quadratischen Bleiplatten (die ein wenig an Carl Andres „Pieces“ erinnern) zum Betreten vorgesehen: Sie sollen sich durch den Druck vieler Füße weiter verändern, sollen damit Zeugnis vom Fortschreiten der Zeit geben, wie in einem Palimpsest alte durch neue Strukturen ersetzen.
Unter Palimpsesten versteht man ursprünglich antike und mittelalterliche Handschriften, die – gewöhnlich mit einem Messerchen – getilgt und mit einem anderen Text überschrieben wurden, ein nicht selten praktiziertes Verfahren in Zeiten, in denen Pergament und Papier rar und kostbar waren. Meist blieben Spuren des ursprünglichen Textes sichtbar oder können mit chemischen und physikalischen Methoden wieder zum Vorschein gebracht werden – wertvolle Quellen für die historische Forschung. Künstler der Moderne wie Emil Schumacher, Pierre Alechinsky, Georges Noël oder vor allem Arnulf Rainer haben dem Begriff „Palimpsest“ eine neue, erweiterte Bedeutung gegeben, indem sie bereits beschriebene, bedruckte oder bemalte Bildträger benutzten und ihre eigenen Bildzeichen daraufsetzten. Auslöser war sicher oftmals die „Angst vor dem weißen Blatt“, die den Beginn einer Gestaltung hemmt, wichtiger aber war zum einen die graphische Verbindung von Gefundenem und Hinzugefügtem und zum anderen die Anmutung einer gewissen „historischen Tiefe“, das sichtbare Eingehen des Faktors „Zeit“ in ein Bild. Und just darauf hat es Magdalena Grandmontagne abgesehen, und sie geht noch einen Schritt weiter: „Erstarren“ die Werke der genannten Künstler in dem Moment, wo die Arbeit abgeschlossen ist, so werden sich die Bleiplatten potenziell endlos verändern – auch hier spielt wieder das Moment der Entropie eine bedeutende Rolle, weil niemals ein „kristalliner“, geordneter Zustand erreicht wird, sondern die Aussage des Werks in seiner Tendenz zu ständiger unvorhersehbarer, ungeordneter Veränderung zu suchen ist.
Und hier berührt dieses Werk einen Aspekt, der für die Kultur unserer Gegenwart (und Zukunft) von zentraler Bedeutung ist, ohne dass sich schon viele Menschen über die Konsequenzen im Klaren wären. Ich meine die Frage einer dringend gebotenen Neudefinition von Autorschaft. Waren in den frühen Künstlerwerkstätten etliche Mitwirkende an der Entstehung eines Kunstwerks beteiligt, ohne dass ihre Namen – außer Spezialisten – bekannt sind, stand also ein Name, der des Meisters, für eine ganze Anzahl Schaffender, so setzte sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Vorstellung durch, dass ein Kunstwerk allein durch Geist und Hand eines Einzelnen entstehen könne – noch immer stößt man zuweilen auf Unverständnis für Künstler, die ihre Entwürfe von Spezialfirmen realisieren lassen. Wir werden es aber mehr und mehr mit kollektiver Autorschaft zu tun bekommen – und dafür ist nicht nur das „World Wide Web“ verantwortlich. Vielleicht müssen wir zugestehen, dass auch ein gemeinsames, auch anonymes Werk ein Kunstwerk ist, sogar eines, das unserer gesellschaftlichen Realität eher entspricht.
Magdalena Grandmontagne scheint dort in gewisser Weise schon angekommen zu sein, auch wenn sie keine digitale, keine Internetkunst erzeugt, sondern Werke, die (nur) auf den ersten Blick mit relativ traditionellen Mitteln geschaffen wurden. Den Geist eines Kunstwerks aber, für das nicht einer allein verantwortlich ist, atmen ihre Arbeiten schon. Und was für ein schöner Gedanke: Dass wir uns einer Zeit nähern könnten, in der die Verantwortung für Kunst von vielen getragen wird, auch solchen, denen der Besuch einer traditionellen Ausstellung ein Gräuel wäre. Beuys‘ (oft missverstandenes Postulat) „Jeder Mensch ein Künstler“ scheint erfüllbar.
Und mehr noch zeigt Magdalena Grandmontagne: Dass nämlich auch der schiere Zufall (nur unwesentlich gesteuert, wie Max Ernst es beschrieb) gestaltbildend wirken kann, sogar in einem Maße, dass das Resultat wieder abbildlich wirkt. Die „Himmelsscheiben“ erinnern zwingend an jene von Nebra, obwohl sie ihre Existenz und ihr Aussehen vor allem dem Wirken der Elemente und chemischer Substanzen verdanken. Der (gesuchte) Zufall und die (gewollte) Ordnung konvergieren hier in der Ähnlichkeit von freier Formung auf der einen und einem frühen Versuch geistiger Durchdringung der Ordnung der Welt auf der anderen Seite.
Übrigens: Auch die Laetoli-Piste ist in gewisser Weise ein Palimpsest: Erdschichten hatten sich im Laufe der Jahrmillionen auf ihr abgelagert, ohne dass sie vollkommen „ausradiert“ worden wäre, und heute ist sie zu ihrem Schutz wieder mit Erdreich bedeckt.
Dieser Text entstand anlässlich der Ausstellung PALIMPSEST, der Reihe KUNST IM LANDTAG. Eine Initiative des Saarländischen Landtags.
Katalog: KUNST IM LANDAG Magdalena Grandmontagne PALIMPSEST EDITION III